Nationale Demenz | Fisch und Vogel

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Nachrichten aus christlicher Solidarität mit den Philippinen

Nationale Demenz

Michael L. Tan (University of the Philippines Diliman)

Nachdem ich geliebte Menschen gepflegt und an Alzheimer verloren habe, konnte ich nicht anders, als über den unheimlichen Zufall nachzudenken, dass der 21. September sowohl der Welt-Alzheimer-Tag als auch der Jahrestag des Kriegsrechts in den Philippinen ist.

Alzheimer wird zu einer aussagekräftigen Metapher für das nationale Vergessen und eine erzwungene Amnesie, die sowohl auf Tatsachen (die massive Fabrikation von Geschichtsfälschungen) als auch auf Unterlassungen (das Versagen des Bildungssystems und der Massenmedien, dieser Ära mehr Aufmerksamkeit zu widmen) zurückzuführen sind.

Bei Alzheimer geht es um mehr als nur das Vergessen. Alzheimer ist eine Krankheit, die das Gehirn angreift, vor allem eine allmähliche Verschlechterung der exekutiven Funktionen bewirkt, wozu das Arbeitsgedächtnis, die Wahrnehmung und das Verständnis sowie die Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen, gehören.

Die Verschlechterung dieser exekutiven Funktionen wird als Demenz bezeichnet, die hauptsächlich durch Alzheimer verursacht wird, aber auch durch häufige Schlaganfälle und andere Verletzungen des Gehirns entstehen kann.

Es geht nicht nur um das Kriegsrecht. Wir haben auch zu schnell die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung und davor den langen Amerikanisch-Philippinischen Krieg vergessen, der geführt wurde, um die koloniale Besetzung unseres Landes durch die USA zu festigen.

Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Wir müssen weitermachen. Dies sind die gängigen Argumente für ein Nicht-Erinnern beziehungsweise Nicht-Erinnern-Wollen. In Filipino heißt das pagbubura, das Auslöschen von Erinnerungen.

Ja, Erinnerungen können zutiefst schmerzhaft sein angesichts von Angriffen und Traumata, die der Nation zugefügt wurden. Aber in der Psychologie beinhaltet die Behandlung von posttraumatischen Störungen beziehungsweise Schmerzen eine sanfte und achtsame Konfrontation mit dem Trauma, so dass das Opfer lernt, ein_ Überlebende_r zu werden.

Unsere nationale Demenz ist mit einer gefährlichen Auslöschung von Erinnerungen verknüpft, was uns eigentlich daran hindern könnte, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, insbesondere was die Akzeptanz von Unterdrückung betrifft.

Immer wieder sind wir dazu verleitet worden, Unterdrückende mit Geschenken und/oder Versprechungen eines besseren Lebens (oder, im Falle der Spanier, eines besseren Lebens nach dem Tod) schnell zu akzeptieren. Die Amerikaner versprachen ein besseres Leben als das unter Spanien, indem sie ein amerikanisches Wohlstandsmodell in Aussicht stellten. Wenn das partout nicht klappte, konnte man immer noch in ihr »Schlaraffenland« auswandern. Dann kamen die Japaner und geißelten den US-Imperialismus und boten den Asiaten gemeinsamen Wohlstand an — natürlich unter ihrer Führung.

Darauf schließlich folgte die Reihe unserer eigenen Präsident_innen mit ihren jeweiligen Versprechen. Ich muss erwähnen, dass in unserem Geschichtsunterricht fast nie erwähnt wird, dass sich unser erster Präsident, Emilio Aguinaldo, selbst zum Diktator unserer ersten Republik aufschwang und dies auch geblieben wäre, hätte ihn nicht ein weiserer Apolinario Mabini ermahnt, der seinerseits auf einer neuen republikanischen Verfassung bestand.

Für Demagog_innen ist es tatsächlich leichter, ein dementes Volk zu täuschen. Die lange Regierungszeit von Marcos machte es Duterte so viel leichter, und von diesem wiederum profitierte Marcos Junior. Unsere Amnesien sind kumulativ, jede Generation ist anfällig für neue leere Versprechungen und Rhetorik oder, um das philippinische Wort zu gebrauchen, für mehr Budol und Budol-Budol (wie hypnotisiert).

Bei Demenz geht es nicht nur um verlorene Erinnerungen, sondern auch um verzerrte Erinnerungen, die sich negativ auf unsere Wahrnehmung und unser Verständnis auswirken. Die beunruhigendsten Gedächtnisverluste sind diejenigen, die sich auf die Grundbedürfnisse des Körpers beziehen: Hunger und Durst. Der_die Demenzkranke muss ständig daran erinnert werden, dass er essen, trinken, sogar kauen und schlucken muss.

Unsere nationale Demenz ist in ihrer Verzerrung der Wahrnehmung und des Verständnisses ähnlich. Die ständige Flut von Desinformationen und die Amnesie der Wahrheit führen dazu, dass wir Freiheit und Demokratie nicht mehr zu schätzen wissen und stattdessen Autoritarismus und Diktatur bevorzugen.

Wie bei Alzheimer und Demenz gibt es derzeit nur präventive Methoden, um die nationale Demenz abzuwehren. Es gibt den Begriff der kognitiven Reserven, der sich bei einem Individuum auf eine lebenslange Bildung und Erfahrung bezieht, die im Alter abgerufen werden kann, um die Demenz zu bekämpfen.

Als Nation verfügen wir noch über solche Reserven, und das ist es, was die Feinde von Demokratie und Freiheit so erschreckt. Diese Reserven finden sich in unseren gemeinsamen Geschichten darüber, wie wir die Freiheit gewonnen und verteidigt haben, und auch über die Zeiten, in denen die Freiheit angegriffen und wiederum verteidigt wurde. Diese Geschichten werden in Büchern, in Liedern, im Theater und in historischen Archiven erzählt und konserviert. Wir müssen diese Reserven verteidigen, bevor wir glauben, es gäbe nichts mehr (sich) zu erinnern.

Vom Autor autorisierte Übersetzung ins Deutsche: Rainer Werning

Diese Kolumne erschien am 27. September 2022 im Philippine Daily Inquirer.

Michael L. Tan

Dr. Michael L. Tan ist Veterinärmediziner, Sozialanthropologe und Verfasser der vielbeachteten Kolumne »Pinoy Kasi« (was so viel heißt wie »Weil ich halt Filipino bin«) der Tageszeitung Philippine Daily Inquirer. Er war landesweit einer der Hauptinitiatoren eines gemeindebasierten Gesundheitsprogramms sowie Dekan des College of Social Sciences and Philosophy der University of the Philippines in Diliman, bevor er von 2014 bis 2020 als deren Kanzler fungierte.